Sturz von der Kellertreppe

Sturz von der Kellertreppe

Manchmal habe ich ganz primitive Bilder im Kopf. Da ist z.B. die Kellertreppe:

Ganz oben auf dem ersten breiten Treppenabsatz sitzen die Gesunden und amüsieren sich, Sonnenlicht und frische Luft inklusive. Ganz unten auf den letzten schmalen und schiefen Stufen im dunklen und muffigen Keller lauern Sterben und Tod.

Die Treppen-Ordnung ist klar und einfach. Je besser es jemand geht, desto weiter oben sitzt er. Je schlechter, desto weiter unten.

Auf der Treppe ist ständige Bewegung, unaufhörlich gehen Menschen Stufen hinunter oder wieder hinauf. Manchmal nur eine Stufe, manchmal mehrere. Es kommt vor, dass jemand die ganze Treppe runterfällt oder jemand langsam von ziemlich weit unten nach oben keucht. Man hat weniger Einfluss darauf, als man denkt, wie lange man auf einer Stufe sitzen darf. Das Gießkannenprinzip. Es gibt höchstens Wahrscheinlichkeiten. Illusionäre Unendlichkeit - wie in der Fantasie der Gesunden üblich - hat man sich sowieso schon längst abgewöhnt.

Wer darüber entscheidet, wer absteigen muss oder aufsteigen darf? Eigentlich niemand. Es passiert einfach. Man passt sich seiner Stufe an und richtet sich dort ein, bis es nicht mehr geht....dann wird nach weiter oben oder unten gewechselt, ganz automatisch. Niemals sitzt jemand auf der falschen Stufe. Auch die Depressiven und Dementen sitzen immer genau richtig.

Jede Treppen-Stufe ist unterschiedlich ausgestattet, hat andere Regeln und definiert sich vor allem über den Grad der Verzichtleistung gegenüber der obersten breiten Stufe, wo sich die Gesunden tummeln. Je kränker, desto größer der Verzicht auf Lebensqualität, desto geringer die Mobilität, desto größer die Pillenpackungen, desto häufiger und intensiver der Schmerz oder die Schwäche. Endlos ließe sich die Beschreibung der Stufenunterschiede fortsetzen.

Auf den Treppenstufen sitzen allerdings nicht nur die Kranken, sondern zu ihrer Unterstützung haben sich dort besondere Gutmenschen, selbst ernannte Moralapostel und unersättliche Mutmacher niedergelassen. Hier ist die glitzernden Ware Hoffnung Trumpf. Denn von alleine schaffen die wenigsten Kranken den Weg zurück nach oben ans Licht. Die unermüdliche Helfertruppe ist stets erkennbar am beständigen Lächeln, am strengen Blick, oder an beruhigenden oder auffordernden Gesten.

Unaufhörlich versuchen diese Leute die Kranken auf die nächst höhere Stufe zu hiefen. Oftmals gelingt das vorübergehend. Nur Hoffnung allein ist ein unzuverlässiges Gut. Ohne physische Kräfte und fehlenden Zuwachs an realer Gesundheit ist sie kaum ein Garant für einen längerfristigen Wiederaufstieg aus der Unterwelt. Viel mehr zählen leider Laborwerte, Metastasen- oder Blastenanzahl und der Zustand von Herz- und Kreislauf.

Unsereiner, mit einer eigentlich unheilbaren Blutkrebs-Erkrankung (Myelodysplastisches Syndrom), geht mehrheitlich die Treppe nach unten. Das kann schnell gehen, aber auch eine Zeitlang dauern. Manchmal gibt es Verschnaufpausen durch vorübergehend wirksame Therapien. Es gibt einige Erkrankte, die durch fremde Stammzellen ein neues Leben geschenkt bekommen. Sie klettern nach ihrer Ochsentour im Kellerbereich die Treppe ein großes Stück wieder rauf und bleiben dann wenigstens eine Zeitlang auf einer Stufe im oberen Drittel sitzen. Immerhin.

Meine aktuelle Position ist wahrscheinlich so ungefähr im mittleren Drittel der Treppe, von der übrigens keiner weiß, wie viele Stufen sie hat und schon gar nicht, wo genau der Kellerbereich beginnt. Ein steiler Abstieg und eine Kurve versperren den Blick. Glücklicherweise.

Vor ein paar Wochen bin ich von meiner Treppenstufe ein paar Stufen weiter runter gestürzt. Wie viele weiß ich gar nicht. Es ging schnell, beinahe ohne Ankündigung, innerhalb von ein paar Stunden. Plötzlich lag ich da. Bähm!

Als ich nach ein paar Tagen wieder zusammenhängender denken konnte und Bilanz zog, wie es mir denn eigentlich geht, sah ich mich um, was die neue Treppenstufe mir denn bieten würde bzw. mit welchen neuen Einschränkungen ich hier unter anderen rechnen müsste. Langsam aufrecht in der Wohnung ein paar Schritte gehen, war nach einiger Anstrengung möglich, aber ich sah meine Treppenkameraden immer wieder zwischendrin so merkwürdig einknicken. Und als mir etwas herunter fiel, merkte ich es selbst. Ich konnte mich nicht mehr bücken, mein Körper schaffte es nicht, ich war zu schwach. So stand ich also mit zitternden Knien da und überlegte krampfhaft, wie ich das, was mir runter gefallen war, wieder zu fassen kriegten könnte. Selbst wenn ich es hinbekam es wieder aufzuheben, fiel es mir gleich wieder aus der Hand und ich musste mühsam wieder versuchen den Körper in Richtung Boden zu verbiegen. Liegen lassen? Das Glas Wasser kippte mir um und das Wasser lief aufs Parkett, meine Tabletten rollten unters Bett, die Jacke fiel vom Stuhl, ich stieß das Handy versehentlich vom Nachttisch, die Zahnbürste hüpfte auf den Badezimmerboden …oh Mann!

Fluchen oder Tränen? Beides. Einer meiner lächelnden Helfer und Mutmacher machte mir klar, dass Fluchen eine Wild Card für einen Aufstieg bedeutet, „fürs Fluchen brauchst du Kraft, setze sie besser ein.“ Und ja, ein paar Tage später konnte ich wieder leichter Sachen aufheben. Ich bin in einem Alter, in dem ich mir schon überlege, was ich sonst noch da unten erledigen könnte, wenn ich schon mal unten bin, zum Beispiel Krümel auffegen. Hat funktioniert.

Jetzt bin ich sogar wieder da, wo ich vor meinem Sturz gesessen habe. Das ist toll, denn es kommt nicht selten vor, dass man sich nach einem Sturz mit einer Stufe unterhalb der vorigen zufrieden geben muss. Ich bin nochmal dahin zurück gekommen, wo ich mich gut auskenne An diese Treppenstufe habe ich mich – trotz mancher Einschränkung – schon länger ziemlich gewöhnt und will sie noch nicht so schnell aufgeben. Vielleicht könnte ich mich ja ans Geländer ketten, ich traue dem Frieden nicht so ganz. Das haben aber auch schon andere versucht, geholfen hat es ihnen nicht.

Da bleibt nur „carpe diem“ !