Von Bergit Kuhle
Autsch !
Ich habe meine Krankheit ganz gut im Griff.
Seit Jahren ist sie in mein Leben integriert. Präsent im Denken und Fühlen, aber trotz aller theoretischen und sichtbaren Bedrohlichkeit handhabbar. An kleine Attacken des Monsters habe ich mich gewöhnt. Die ganz große Attacke ist bis jetzt noch ausgeblieben.
Es gibt jedoch zwei Tage im Jahr, da gerät alles in mir ins Wanken.
Jedenfalls muss ich mich zusammen nehmen und die Tränen sitzen locker. Es sind die Tage, an denen ich punktiert werde. Weil man ins Knochenmark gucken muss, um zu sehen ob und wie meine Blut-Erkrankung fortschreitet. Da sind meine Ärzte unerbittlich. Zweimal im Jahr steht eine Knochenmarkpunktion an. Bei Verdacht auf Progress öfter. Bei der Befundung werden im Labor die Blasten (unreife Blutkörperchen) gezählt, die dysplastischen (fehlgebildeten) Formen der Blutkörperchen dokumentiert und eventuelle neue Mutationen registriert.
Um Knochenmark zu gewinnen muss man mit einem Bohrer in das Innere des Beckenknochens vordringen und es ansaugen....DAS ist es! Das tut trotz äußerlicher Betäubung einfach sehr weh, jedenfalls mir. Ich weiß aus zahlreichen Gesprächen mit Mitpatienten und aus Diskussionen in Internet- Foren, dass das nicht nur mir so geht. Nichts passender als der alte deutsche Spruch : "Der Schmerz geht durch Mark und Bein."
Ein plötzlicher scharfer, ziehender Schmerz, der durch die Hüfte und manchmal auch durch Bein und Fuß rast. Je nachdem wie viele Röhrchen mit Knochenmark und den sogenannten Bröckel gefüllt werden müssen, kommt er mehrmals.
Käme der Schmerz unerwartet, wäre er vielleicht einfacher zu ertragen.
So aber ist es ein Dreier aus angstvoller Erwartung, Verkrampfung und Schmerz. Dem bin ich kaum gewachsen. Mein Blutdruck ist schon lange vorher auf 170 und höher.
Noch schlimmer ist es, wenn eine sogenannte Stanze anliegt. Dann wird zusätzlich ein Stück Knochen aus dem Knochenmark heraus gefräst, um dessen Dichte zu beurteilen, was wiederum Rückschlüsse darauf zulässt, wie gut die Blutbildung funktioniert.
Ich gerate scheinbar oft an Ärzte, die nichts von "Überschlafen der Prozedur " halten, obwohl es theoretisch möglich ist, ein Mittel wie Dormicon oder sogar Propofol zu bekommen. Wie z.B. bei einer Darmspiegelung. Die Begründungen sind vielfältig: zu gefährlich wegen eines möglichen Kreislaufzusammenbruchs, zu personalintensiv, zu kostenintensiv oder es wird schlichtweg gar nicht begründet und gesagt, es sei eben an dieser Klinik nicht üblich.
Kein Patienten-Argument bringt einen Oberarzt von dieser Sichtweise ab, keine Chance. Manchmal kommt dann eine Geschichte, dass man sich zu Studienzwecken als Arzt hat einmal punktieren lassen und so schlimm sei das doch gar nicht.
Bei Gott ja, der Mann ist gesund! Ich dagegen nehme mein gesamtes physisches und psychisches Erkrankungspacket mit in eine Punktion. Und wenn der Oberarzt den Raum verlässt, hat mir schon mehr als eine Schwester anvertraut, dass sie sich niemals ohne Betäubung punktieren lassen würde. Manche Patienten könnten es einigermaßen ab, andere aber würden auch ziemlich laut schreien.
Wenn es dann losgeht, ich mit halbnacktem Hintern auf der Pritsche liege und höre wie sich Arzt und Schwester bei der Vorbereitung des Eingriffs und beim Sterilisieren der Instrumente unterhalten, bin ich jedes Mal wütend, denn ich fühle mich als Opfer. Das geht mir gegen meine Würde. Mir werden Schmerzen zugefügt und es wäre nicht notwendig, dass ich sie in dem Maße ertragen muss.
Der schlimmste Satz: "Jetzt wird es gleich ein bisschen unangenehm." Nette Umschreibung, vor allem, wenn der Punkteur handwerklich nicht so gut ist. Das kommt leider vor. Jeder, der schon mehrfach knochenmarkpunktiert wurde, wird von den Punkteuren schwärmen, die ein "gutes Händchen" hatten und auf die "Schlächter" schimpfen. Da muss der Zeitpunkt abgewartet werden, bis die äußerliche Betäubung optimal wirkt, der Winkel stimmen, mit dem der Bohrer im Beckenknochen versenkt und die Geschwindigkeit, mit der das Knochenmark aspiriert (angesaugt) wird usw. (!) Gute Punkteure sind Punkteure, die schon häufig punktiert haben. 1000 Knochenmarkpunktionen sind immerhin eine gute Empfehlung. Ich würde nie einen Assistenzarzt im ersten Jahr an mein Becken lassen. Ich weiß, dass Assistenzärzte üben müssen, aber in dem Fall nicht bei mir. Ich habe schon meine Venen zum Blutabnehmen zur Verfügung gestellt und der Lehre damit genug gedient.
Dabei geht alles auch anders. Ich weiß von Kliniken, da wird die Sedierung für eine Knochenmarkpunktion gegeben, wenn der Patient sie wünscht. Ohne große Diskussion.
Es ist zu beobachten, dass jüngere Ärzte eher bereit sind dem Patientenwunsch stattzugeben als die der "alten Schule", die meinen, man könne doch auch mal "die Zähne zusammen beißen".
Ab in die Weichei-Ecke. Auch das macht mich wütend. Schmerzempfinden ist ohne Zweifel subjektiv. Muss ich mir als langjährige Patientin mit einer unheilbaren Blutkrebserkrankung und massiven körperlichen wie mentalen Belastungen unterstellen lassen, ich sei ein Weichei ?
Manche Männer der älteren Generation reißen sich während einer Knochenmarkpunktion unheimlich zusammen mit Kommentaren wie "was mich nicht umbringt, macht mich stärker" oder "ich habe in meinem Leben schon so viele Schmerzen ertragen müssen, darauf kommt es jetzt auch nicht mehr an."
Ich bin während meiner zehnjährigen Erkrankung bisher ca. 20 mal punktiert worden. Darunter vielleicht fünf oder sechsmal mit Dormicon. Ich weiß den Unterschied sehr zu schätzen.
Ich könnte in andere, weit entferntere Kliniken fahren, dorthin wo sediert wird.
Aber das ist alles nicht so einfach, denn ich will ja im Prinzip bei meinen vertrauten Ärzten bleiben, die die Punktion in der Kenntnis meiner individuellen Erkrankung auswerten, die mich kennen....man kann sich nicht einfach bei irgendeiner Klinik zu einer Punktion anmelden ohne "1000 Voruntersuchungen" und spezieller medizinischer Indikation. Eine Knochenmark-Punktion kostet ca. 2500 €, mit ausführlichem zyto- und molekulargenetischem Befund auch bis zu 6000 €.
Also werde ich weiter schimpfen. Jedes halbe Jahr aufs Neue. Ich bin immer so froh, wenn die Punktion überstanden ist. Aber nach der Punktion ist vor der Punktion. Ein halbes Jahr ist schnell wieder um.
Mein letztes Punktionsergebnis vom 15. Juli 2015 zeigte keinen Hinweis auf ein Fortschreiten der Erkrankung und mit 3% Blasten keinen Anhaltspunkt für die Entwicklung einer akuten Leukämie. Das ist doch das Entscheidende und Positive, "dafür kann man doch mal ein paar Schmerzen wegstecken", heißt es dann. Was soll ich dazu noch sagen?