BLICK NACH VORN

Blick nach vorn

Vor kurzem durfte ich als Patientenvertreterin an der jährlich stattfindenden tumorgenetischen Arbeits-Tagung der "Deutschen Gesellschaft für Humangenetik" teilnehmen. Dieses Jahr fand sie bei Göttingen statt, für mich also ein Heimspiel.
Erstmal schnell: Die Humangenetik beschäftigt sich mit konstitutionellen, angeborenen und damit vererbbaren Mutationen, die in jeder Körperzelle des Trägers vorliegen. Bekanntes Beispiel die Trisomie 21, das Down-Syndrom.
Die Tumorgenetik dagegen forscht im Bereich der somatischen Mutationen. Mutationen, die im Laufe des Lebens, zum Beispiel durch Kopierfehler bei der Zellteilung entstehen, also erworben und nicht vererbbar sind.

Außerdem kommen diese Mutationen nur in bestimmten Zelltypen, zum Beispiel in den Blutzellen vor....ist dem so, entwickelt sich im Blutzell-Beispiel Blutkrebs......
Gewusst ? Also so klar war mir der Unterschied zwischen Humangenetik und Tumorgenetik vorher nicht. Ich habe zwei neue Schubladen entdeckt, in die nach meinem Verständnis einiges reinpasst.

Bei der Tagung ging es um Inhalte, Verdienste und Verfahren der Zytogenetik und der Molekular-genetik bei verschiedenen Blutkrebsen, schwerpunktmäßig beim Myelodysplastischen Syndrom (MDS). Auch hier nochmal schnell: Die Zytogenetik untersucht die Chromosomen auf Anomalien, die Molekulargenetik, die in ihrem therapeutischen Nutzen noch ganz am Anfang steht, sucht gezielt nach bestimmten Genmutationen auf den Chromosomen. Kompliziertes Wissen für Patienten: dieses laienverständlich zu vermitteln muss zeitnah eine gemeinsame Aufgabe von Ärzten und Patientenvertretern sein.

Die Krebsmedizin macht zur Zeit Riesen- Fortschritte und das liegt an der wachsenden wissen-schaftlichen Erkenntnis, dass die phänotypisch (äußerlich sichtbar) ausgeprägten Krebsformen eine Vielzahl von Genotypen haben, also durch ganz unterschiedliche Mutationen entstanden sind. Lungenkrebs ist nicht gleich Lungenkrebs und MDS ist nicht gleich MDS, ein Grund warum Medi-kamente nicht bei jedem Patienten gleich gut anschlagen.

Warum war ich auf einer tumorgenetischen Arbeitstagung eingeladen?
Weil die ganze Diagnostik, die zytogenetische und die molekulargenetische einfach noch sehr teuer ist. Obwohl die technische Kosten zunehmend sinken wie bei Handys und Flachbildschirmen, ist es für die Solidargemeinschaft immer noch viel zu teuer die diagnostischen Tests für jeden Patienten zu bezahlen, besonders weil aus der Feststellung welche Mutationen denn vorliegen, es in den meisten Fällen noch keine maßgeschneiderte Therapie gibt.

Die Fragestellung für die abendliche Podiumsdiskussion war nun: "Können/müssen/dürfen wir uns diese teure Diagnostik leisten?"

Es gab dazu Impulsvorträge von einem Ethikvertreter, einem Kliniker, einem Vertreter für Abrech-nungsmodelle, einem Pharma Vertreter und - zum Schluss - von mir als Patientenvertreterin.
Wir haben die Frage erwartungsgemäß nicht beantworten können. Keiner der Interessenvertreter hat sie verneint, wenn auch Skepsis - wen wundert's - vor allem vom Vertreter für Abrechnungs-modelle geäußert wurde. Dass ich mich als Patientenvertreterin für das Tandem hilfreiche Diag-nostik und zielgerichteten Therapien stark mache, wundert sicher nicht.

Wohl wissend, dass die Möglichkeiten der Tumorgenetik steigende Kosten generieren, hoffen alle Beteiligten, dass die technischen Verfahren der Diagnostik, z.B.der Genom-Sequenzierung, mit der Zeit billiger werden und sich bei den Therapien Kosten einsparen lassen, weil sie zielgerichtet und für die entsprechende Patientengruppe wirksam sind und/oder weil dabei z.B. weniger schädliche Nebenwirkungen auftreten, die ihrerseits sonst wieder teuer therapiert werden müssten. Letzteres ein Umstand, der in der momentan noch üblichen "trial and error" Behandlung in Kauf genommen werden muss.

Begleitet von Einwürfen aus dem Publikum haben wir politisch korrekt formuliert, trotz des Bewusstseins, dass es auch in Deutschland verstärkte Verteilungskämpfe im Gesundheitssystem geben wird, dass wir auf dem Weg in eine Zweiklassen Medizin sind und dass nicht alle Patienten, die davon profitieren würden, Zugang zur Personalisierten Medizin erhalten werden. Das bedeutet, dass eine gesamtgesellschaftliche Debatte ohne Tabus darüber geführt werden muss, wie Gesundheitssysteme in Zukunft gestaltet werden können und wer wann und warum welche medi-zinischen Leistungen erhalten kann.

"Zugang zur best möglichen Diagnostik und Behandlung für alle Patienten" ist dennoch eine Vision, die wir Patientenvertreter vor uns her tragen und einfordern müssen": jetzt gerade beim EHA (European Hematology Congress) in Wien, vom 11.-15. Juni 2015. Um die 50 Patientenvertreter aus ganz Europa und vielen weiteren Ländern sind zu diesem Hämatologen Kongress angereist, um für Patientenrechte einzutreten, sich in medizinischen Themen fortzubilden und um sich an Veranstaltungen mit Ärzten und/oder Pharmavertretern aktiv zu beteiligen. Unsere Plattform für Patientenvertretung (Patient Advocacy Track ) beschäftigt sich in den diesjährigen Vorträgen, zu denen wiederum Ärzte und Pharma als Sprecher und Zuhörer eingeladen sind, mit den Themen "Zugang zu Therapien" und "Zusammenarbeit mit Patienten in Forschungsfragen".

Meiner Meinung nach stimmt die Richtung, oder?