Von Bergit Kuhle
Chronische Erkrankungen sind nichts für Weicheier
Ich bin im 11. Jahr meiner MDS-Erkrankung (Myelodysplastisches Syndrom). Unheilbarer Blutkrebs. Am Anfang habe ich das Wort „chronisch“ für meinen Fall ausdrücklich abgelehnt. Chronische Erkrankungen waren für mich z.B. Diabetes oder Rheuma, aber nicht MDS, gegen das es kein Medikament gibt, das länger als eine unbestimmte Zeit wirkt und das sich schnell alarmierend verschlechtern kann, so dass eine gefährliche Stammzelltransplantation notwendig wird. Allerdings nur wenn man dazu „noch jung und sonst gesund genug“ ist. Andernfalls ist die Alternative nur noch die Palliativmedizin.
Es sieht aber so aus, dass man nach nunmehr fast 11 Jahren bei mir durchaus von einem chronischen Verlauf der MDS-Erkrankung sprechen kann. Das ist ein Glück, aber auch ein Fluch, wie wir gleich sehen werden.
Meine behandelnden Professoren beglückwünschen mich inzwischen nach jeder Knochenmarkpunktion, die Aufschluss über den Stand meiner Erkrankung gibt. Seit Jahren bin ich „stabil“, die Krankheit schreitet nach ärztlicher Definition nicht voran, das heißt: Es gibt keine Anzeichen für die Entwicklung einer akuten Leukämie, meine Genmutationen und meine Chromosomenanomalie verhalten sich ruhig und vermehren sich nicht.
Meine Blutwerte sind allerdings über die langen Jahre immer schlechter geworden. Ohne ca. 14tägige Bluttransfusionen kann ich nicht mehr leben und mir werden alle vier Wochen Immunglobuline (fremde Antikörper – mein Körper produziert nur noch wenige eigene) zugeführt. Mein Immunsystem würde sonst Infekte kaum mehr abwehren können. Für meine Professoren sind dies eher unvermeidliche Kollateralschäden, die man ja schließlich seit Jahren im Griff hat. So lange „es läuft“, werden darüber kaum viele Worte verloren.
Spätestens an dieser Stelle klaffen Patientenperspektive und Arztperspektive jedoch ziemlich auseinander. Mindestens seit zwei Jahren hat mein Körper zunehmend „die Schnauze voll“ sich dauerhaft anzustrengen die MDS-Erkrankung zu kompensieren und diese Belastung zu (er)tragen. Ich kann meinen Körper verstehen, ihm wird seit Jahren einfach zu viel zugemutet. Ich kann die Knochen, Gelenke und Muskeln verstehen, die jetzt immer öfter schmerzen. Ich kann die Schleimhäute verstehen, die mit wunden Stellen reagieren und nicht zuletzt mein Herz, das mir bei der kleinsten Anstrengung und auch oft in Ruhe Herzrasen (Tachykardien) beschert…Mein Schmerzmittelkonsum steigt – das wollte ich nie, aber jetzt schaffe ich es oft nicht mehr ohne (starke!) Schmerztabletten. Über die Nächte will ich eigentlich nicht reden. Ich bin meistens froh, wenn sie vorbei sind. Auch meine Wundheilung lässt mich zunehmend im Stich. Wann immer ich mich an Fingern oder Zehen auch nur unwesentlich verletze, habe ich mit lästigen, lang anhaltenden Entzündungsprozessen zu tun. Das eigentliche Zentrum meiner Erkrankung, mein Knochenmark, wird nach der langen Zeit immer müder, seine eigentliche Aufgabe zu erfüllen und Blutkörperchen zu bilden und schiebt das nun Milz und Leber zu, die das nur sehr unwillig übernehmen, denn sie sind dafür nicht ausgebildet. Sie werden in Folge unnatürlich wachsen und ihrerseits schwächer werden.
Karnofsky-Index 80% steht seit längerer Zeit immer in meinem Arztbrief, wenn ich bei meinen Arztterminen frage: „Warum bin ich eigentlich immer so fertig?“ Laut Wikipedia ist der Karnofsky-Index „eine Skala, mit der symptombezogene Einschränkung der Aktivität, Selbstversorgung und Selbstbestimmung bei Patienten mit bösartigen Tumoren bewertet werden können. Sie reicht von maximal 100 Prozent (keinerlei Einschränkungen) bis zu 0 Prozent (Tod) [..…] 80% bedeutet: „Normale Aktivität mit Anstrengung möglich. Deutliche Symptome.“ - Soweit zu Statistiken und Onkologen.
Wäre ich Malerin, würde ich mich mit einer zweiten Haut (MDS) malen, die wie ein Ganzkörper-Kettenhemd über meiner eigentlichen liegt und mich runter drückt, zudem hätte sie an mehreren Stellen Stacheln, die tief in meinen Körper vordringen, mich behindern und verletzen. Das Gewicht des eisernen Kettenhemds ist naturgemäß schwer, deswegen ist es auch kein Wunder, dass ich schnell müde und erschöpft bin und nur langsam vorwärts komme.
Nur mein Kopf ist noch relativ frei.