Die Wochenendfalle

Die Wochenendfalle

ich sitze mit einem Hämoglobinwert von 7,6 g/dl im ICE von F. nach G. (300km) und es ist Freitag Nachmittag. In den Zug habe ich es gerade so geschafft: erschöpft, der Puls viel zu schnell, jeder noch so kleine Weg beschwerlich und die Luft zu knapp. Beim Gehen schmerzen die Muskeln. Selbst kleinste Strecken nehmen kein Ende. Zum Glück habe ich außer der Handtasche kein Gepäck. Etwas tragen: Unmöglich ! Wegen des bevorstehenden Faschingswochendes ist der Zug total überfüllt. Schnell noch auf einen Platz in den Speisewagen gerettet. Reservieren geht nicht, weil ich nie weiß, wann ich in F. mit der Behandlung fertig bin. Ich halte meinen Kaffee fest und hoffe, dass die Reise bald ein Ende hat, damit ich zuhause aufs Sofa kann. Der Tag ist sowas von gelaufen.

Freitag. Erst am Montag kann ich in G. eine Bluttransfusion bekommen, das sind noch zwei volle Tage und viele Stunden. Für mich eine unglaublich lange Zeit und der Hämoglobin-Wert wird weiter fallen.

Ich weiß genau, wie mies ich mich über das Wochenende fühlen werde, bis ich mich Montag morgen um 8 Uhr in die ambulante Klinik schleppen kann um gegen Mittag dann endlich 2xmal 250 ml rotes Blut transfundiert zu bekommen. Bis dahin heißt es Nerven behalten und den Zustand aushalten. Viel schlafen hilft eher nicht, in diesem sauerstoffunterversorgten Zustand bin ich schlaf- und ruhelos. Hochgradig nervös. Und gereizt.

Seit Jahren bin ich ein Blut-Junkey. Alle 9-14 Tage brauche ich dringend fremdes Blut, sonst geht es mir schlecht. Solange keine Feiertage und Wochenenden in Sicht sind, ist alles gut. Ich telefoniere mit der Tagesklinik, melde für den nächsten Tag meinen Bedarf an, lass mich hinfahren, und gebe Kreuzblut für die Blutbank ab. Nach ein paar Stunden Wartezeit läuft wertvolles Spenderblut durch meinen Port. "Dann nehme ich mein Bett und wandle" , solange bis ich die fremden roten Blutkörperchen wieder aufgebracht habe. Mein Knochenmark, der Ort meiner eigenen Blutbildung, hat schon vor Jahren begonnen mich im Stich zu lassen. Ich habe MDS (Myelodysplastisches Syndrom), eine Blutkörperchenreifungsstörung…

Wie bin ich bloß in diese Situation gerutscht, die mir diesmal ein so mieses Wochenende beschert? Dabei bin ich doch sonst so ein Organisationstalent, ich versuche immer vor allem meine Transfusionsintervalle im Blick zu haben und voraus zu planen, damit nicht passiert, was jetzt passiert ist, nämlich am Wochenende ohne Nachschub da zu stehen und gnadenlos zu leiden.

Mein Dilemma: Für eine notwendige, 300km entfernte Therapie musste ich heute morgen nach F. fahren, aber wie es aussieht, hätte ich gleichzeitig in G. eigentlich eine Transfusion gebraucht. Irgendwie dachte ich wohl, ich schaffe das noch ohne, auch übers Wochenende, hätte theoretisch auch so sein können. Doch schon auf der Hinfahrt nach F. musste ich mir diverse Male die mir wohl bekannte Kraftlosigkeit eingestehen. In F. stellte sich heraus, dass der Hämoglobinwert noch niedriger war als vermutet, es also eine richtig schlechte Entscheidung war die Therapie in F. der Transfusion in G. vorzuziehen. Aus Zeitgründen konnte mir auch in F. keine Transfusion mehr gegeben werden.

Also ab ins crazy weekend. Ich habe zwar das Gefühl, ich habe irgendwie Mist gebaut, aber andererseits weiß ich gar nicht so richtig, wie ich das alles hätte verhindern können. Den eigenen Blutwerten kann man auch nur bedingt vertrauen. Ich bin jedenfalls zusätzlich zu meiner sauerstoffarmen Lage noch gefrustet und sauer. Worauf eigentlich? Ich glaube am ehesten darauf, dass „meine Kalkulation“ nicht aufgegangen ist, dass mein Hämoglobinwert nicht da ist, wo er aus Erfahrung hätte sein müssen. Dass sich meine fremd erworbenen roten Blutkörperchen diesmal schneller verbraucht haben als sonst.

Man kann übrigens ab Freitags mittags in keiner deutschen Klinik mehr Blut bestellen, denn es dauert zwischen zwei - vier Stunden bis durchgetestet ist, ob das eventuelle Spenderblut tatsächlich zum Empfänger passt. Ich bekomme immer zwei Beutel Blut von zwei verschiedenen Spendern, also muss doppelt getestet werden. Dazu haben sich nach meiner schon so langen Transfusions-Karriere Antikörper in meinem Blut gebildet gegen bestimmte Bestandteile von eigentlich passendem Spenderblut. Auch das wird in der Blutbank akribisch getestet, damit diese Spender für mich ausgeschlossen werden. Sonst bekomme ich einen u.U. lebensgefährlichen Allergieschock. Einen dieser Art hatte ich bereits, das war weder für mich, noch für die Ärzte locker, sondern eine echte Notfallsituation. Vor der zeitaufwendigen Arbeit der Blutbank habe ich mindestens seitdem einen Heiden-Respekt. Nachdem die Blutbank die Blutprodukte freigegeben hat, dauert es ca. nochmal zwei Stunden, bis das Blut bei mir durchgelaufen ist. Heißt, ich müsste vielleicht bis abends sieben oder acht in einer ambulanten Klinik bleiben. Niemand wäre nach 17Uhr mehr da um mich zu betreuen.

So also bin ich in die berühmte Wochenendfalle getappt und die Falle ist zugeschnappt.

Folgende hilfreiche Sätze des Arztes aus F. begleiten meine Zugreise am heutigen Freitag Nachmittag: "Am Montag müssen Sie sich unbedingt transfundieren lassen. Es wird Ihnen am Wochenende ziemlich schlecht gehen. Bei Auffälligkeiten (gemeint sind hier z.B. starke Atemnot, Herzprobleme oder Ohnmachten), gehen Sie bitte umgehend am Wochenende in die Notfallaufnahme Ihrer Klinik. Aber machen Sie sich nicht zu viele Sorgen, es besteht keine unmittelbare Lebensgefahr."

Na, dann ist ja gut.